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13. Oktober 2020

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13. Oktober 2020

Fehlerkultur: Wer hat Angst vorm roten Stift?

In unserem Schulsystem werden Fehler bei Kindern mit schlechten Noten sanktioniert. Da Fehler jedoch unglaublich wertvoll sind und die natürliche Grundlage des Lernens darstellen, braucht unser Bildungssystem dringend eine neue Fehlerkultur.

Ein Lehrer berichtete uns zuletzt in einer besonders ausführlichen E-Mail, dass er in seiner 6. Klasse einen Schüler habe, der sich bei jeder – wirklich JEDER – Frage melde, nur um anschließend mit absoluter Selbstsicherheit die falsche Antwort zu geben. Der im Brief beschriebene Junge begeistere den Lehrer wirklich sehr. Warum? Weil der Sechstklässler offenbar nicht die geringste Angst vor Fehlern habe.

Dies sei deshalb so bemerkenswert – erläuterte der Lehrer – weil die meisten seiner Schulkinder sehr wohl Angst hätten, Fehler zu machen. Er erlebe leider regelmäßig, auch in höheren Klassenstufen, wie sich Schüler*innen davor fürchten, von anderen Kindern für eine falsche Antworten ausgelacht zu werden. Besonders traurig fände er, dass sich selbst einige seiner klügsten Schüler*innen, die regelmäßig schriftlich in Tests und Klausuren überzeugten, häufig dafür entschieden, lieber zu schweigen.

Das Schulsystem als Ursache

Noch viel stärker als die negative Resonanz der Mitschüler*innen, die der engagierte Lehrer als Grund für die Hemmung identifiziert, wirkt die grundsätzliche Logik des Schulsystems! Da in der Schule Fehler seit jeher mit schlechten Noten quittiert werden, sind alternative Lösungswege, die unweigerlich mit Fehlern einhergehen, praktisch unmöglich. Dabei wusste schon der berühmte Albert Einstein: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ 

Folgt man den Worten des wohl bedeutendsten theoretischen Physikers der Wissenschaftsgeschichte, sollte der Mut, mit Kreativität und Entdeckergeist neue Lösungswege in Betracht zu ziehen, zwingend gefördert und belohnt statt sanktioniert werden. „Wer aufhört, Fehler zu machen, lernt nichts mehr dazu“, wusste auch schon der Schriftsteller Theodor Fontane – und lag damit goldrichtig.

Bis ein Skater Tricks auf seinem Board steht, fällt er unzählige Male. Auch hier gilt das Prinzip „Trial and Error“.

Fehler verboten!

Dabei durchlief jedes Schulkind auch eine Lebensphase, in der Fehler eine völlig andere Rolle spielten. Die Zeit vor der Schule; als es mit absoluter Selbstverständlichkeit den ganzen Tag über Fragen stellte. Es brauchte Fragen, um neue Fähigkeiten zu entwickeln und sich seine Umwelt zu erschließen. „Jede Frage war Detektivarbeit, die wirklich Spaß machte“, beschreibt die Pädagogin Vera F. Birkenbihl eben jene zwanglose Lebensphase, in der Kinder es zuletzt wagen, ohne „schlechtes Gewissen“ Fehler zu machen.

Doch mit dem Beginn der Schule folgt der Bruch: Kinder lernen von diesem Moment an, dass Fehler verboten sind. Der Rotstift stellt die beste Illustration dieser beklemmenden Fehlerkultur dar. Das Kind darf fortan keine Fehler mehr begehen. Beinahe zwangsläufig entstehen negative Konnotationen, die sich nicht selten bis ins Erwachsenenalter festsetzen. „Ich kann kein Mathe“ oder „Ich konnte noch nie gut vor Menschen frei sprechen“, sind typische Sätze, denen negativen Schulerfahrungen zu Grunde liegen.

Trial and Error

Statt neuen Lernstoffen mit Neugierde zu begegnen, herrscht im deutschen Bildungssystem ein destruktives Klima, in dem Fehler ausschließlich als etwas Defizitäres angesehen und empfunden werden. Dabei sind Fehler extrem wertvoll – und im Leben ohnehin unvermeidlich.

Das wird spätestens dann offensichtlich, wenn man sich die ersten Gehversuche eines Kleinkindes vor Augen führt: Niemand käme auf die Idee, ein Kleinkind dafür zu tadeln, dass es nicht sofort laufen kann! Wenn ein kleines Kind laufen lernt, versucht es aufzustehen, den ersten Schritt zu gehen, bis es fällt, um danach wieder aufzustehen und von vorne zu beginnen. Kleine Kinder probieren aus, üben und zeigen in keinster Weise Angst. Sie beschäftigen sich nicht mit dem Scheitern! „Trial and Error“ lautet ihr Lernkonzept: Sie probieren, machen Fehler, lernen daraus und machen es beim nächsten Mal besser. Und damit fahren sie gut. Denn der Effekt, etwas aus eigenen Fehlern gelernt zu haben, wirkt viel nachhaltiger und stärker als das Lernen nach einem vorgegebenen Schema-F.

Kleinkinder beschäftigen sich nicht mit dem Scheitern.

Dennoch schrecken Menschen mit zunehmendem Alter immer mehr davor zurück, Fehler zu machen. Bereits im Alter von drei bis vier Jahren beginnen Kinder, so berichtet die dänische Pädagogin Heidi Ingemann Jensen, Angst vor Fehlern zu entwickeln. Im Grunde nur schwer nachzuvollziehen, denn jeder weiß aus eigener Erfahrung: Wer etwas zum ersten Mal macht, macht dabei nahezu immer Fehler.

Konstruktive Fehlerkultur statt „Blame Culture“

In der amerikanischen Gesellschaft existiert der Begriff der „Blame Culture“. Damit ist gemeint, dass der Verursacher eines Fehlers diesen als Blamage erlebt. In der modernen Pädagogik gelten Fehler hingegen als etwas Positives. Die Abkehr von der amerikanischen „Blame Culture“ zu einer positiven Fehlerkultur ist ihr erklärtes Ziel. „Eine gute und konstruktive Fehlerkultur bekommt man nicht geschenkt“, erklärt Elke M. Schüttelkopf in ihrem Buch „Lernen aus Fehlern“. Eine gute Fehlerkultur sei vielmehr ein Ergebnis, das auf einer respektvollen und wertschätzenden Haltung anderen gegenüber sowie einem konstruktiven und kooperativen Verhalten basiere. Vier Aspekte seien laut Schüttelkopf dabei besonders wichtig:

1. Ursachen statt Schuldigen suchen

In einer positiven Fehlerkultur wird nicht nach Schuldigen gesucht, sondern nach Ursachen. Dafür ist ein Perspektivwechsel erforderlich. Statt Personen in den Fokus zu rücken, betrachtet man die Sache. Die Frage lautet demnach nicht: „Wer hat den Fehler gemacht?“, sondern „Wie konnte es dazu kommen?“

2. Auf Besserung statt auf Strafe abzielen

In einer konstruktiven Fehlerkultur, in der Fehler etwas positives sind, geht es nicht um Sanktionen, sondern um die konkrete Verbesserung (der Situation). An die Stelle von „Das wird Folgen haben“ tritt „Wie können wir gemeinsam den Fehler ausbügeln?“.

3. Sachlich statt emotional reagieren

Eine positive Fehlerkultur arbeitet niemals mit negativen Gefühlen, sondern widmet sich nüchtern den Fakten und Parametern, die zu dem Fehler geführt haben. Statt „So ein Fehler bringt mich auf die Palme“ lautet eine angemessene Reaktion: „Die Lösung enthält folgende Mängel“.

4. Vom Gegeneinander zum Miteinander

Eine gute und auf Verbesserung abzielende Fehlerkultur lebt von Verständnis und einer respektvollen Kommunikation auf Augenhöhe. Anstelle von Formulierungen wie: „Wie konnte dir das passieren?“ tritt „Mir ist so etwas auch schon mal passiert, ich habe daraus gelernt!“

Von Markus Unckrich

Quellen:

  • Birkenbihl, Vera F. (2016): Stichwort Schule: Trotz Schule lernen!, mvgVerlag, München, 21. Auflage
  • Jensen, Heidi Ingemann (2018): Gut ist besser als perfekt – Fehlermutigkeit unterstützt Bildungsprozesse, in: Das Kita Handbuch (Hsg.: Textor, Martin R./Bostelmann, Antje), https://www.kindergartenpaedagogik.de/
  • Schüttelkopf, Elke M. (2015): Lernen aus Fehlern: Wie man aus Schaden klug wird, Haufe, Freiburg, 2. Auflage