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30. Oktober 2020

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30. Oktober 2020

Lernen 2020: Krise oder Chance?

Bis jetzt stellte dieses Jahr Familien, Schulen und Bildungspolitik vor große Herausforderungen. Homeschooling, Präsenzunterricht, Hygieneauflagen, Quarantäne – und immer noch wenig Aussicht auf die Rückkehr zur Normalität. Wo steht Lernen 2020? Welche Risiken, aber auch welche Chancen birgt diese Zeit für die Zukunft unserer Kinder – und was können Eltern in dieser Situation tun? Jürgen Möller, pädagogischer Leiter der Akademie für Lernpädagogik, gibt im Gespräch einen Ausblick.

Das Corona-Jahr 2020: Krise oder Chance für die deutsche Bildungslandschaft? Was trifft eher zu?

Das sind natürlich sehr starke Aussagen – Krise oder Chance. Beides trifft zu und auch wieder nicht. Diese Zeit ausschließlich als Chance zu bezeichnen, in Situationen, in der viele Menschen um ihre Existenz bangen, ist wohl eher ist nicht angemessen. Auch Schulen und allen voran die Kinder stecken nicht gerade in einer rosigen Situation. Dennoch könnte man sagen: Diese Zeit birgt auch Chancen für den Bildungsbereich.

Welche Chancen sind das?

Eine Chance wäre: Endlich der Vermittlung von Fähigkeiten, die Kinder nachhaltig gebrauchen können, mehr Raum zu geben – nicht nur dem reinen Lernstoff-Lernen. Von dem Lernstoff, den Kinder jetzt in der Schule lernen, behalten sie dauerhaft nur 5 Prozent, also verdammt wenig!

Was wirklich nachhaltig hängen bleibt und für die Zukunft relevant sein wird, ist nicht der reine Lernstoff, sondern sind die Fähigkeiten, die Kinder erlernen sollten?

Corona hat einiges offen gelegt an Mängeln, aber auch an Potenzialen: In sehr kurzer Zeit musste Unterricht auf digitales Lernen/ Remote-Lernen umgestellt werden, und Kinder waren von jetzt auf gleich mit der Aufgabe des selbstständigen Lernens konfrontiert. Also nicht nur der Aufgabe, sich den Lernstoff anzueignen, sondern überhaupt erst einmal zu sehen: Wie gehe ich damit um? Wie erarbeite ich mir das, wenn kein Lehrer vorne steht und mir alles erklärt? Das ist eine immens wichtige Fähigkeit: das Lernen zu können. Gerade in Zeiten wie diesen, in der klassischer Frontalunterricht teilweise aufgelöst werden muss, hätten wir die Chance und eigentlich auch dringende Aufgabe, diese grundlegende Fähigkeit des “Lernen lernen” stärker in den Lehrplänen zu verankern. Das hilft nicht nur jetzt, in dieser sehr wechselhaften Schulzeit 2020, sondern ist auch die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Zukunft der Kinder.

Das Lernen lernen – manche Eltern werden nun sicherlich sagen: Ohje, noch ein zusätzlicher Punkt auf dem vollen Stundenplan meines Kindes jetzt auch noch das Lernen selbst lernen, sollten wir Kinder nicht einfach mal in Ruhe lassen…?

Das ist erst einmal eine sehr zugewandte und verständliche Reaktion. Schließlich wollen wir Kindern das Leben nicht schwerer machen und ihnen nicht noch mehr aufbürden. Aber genau dafür ist die Fähigkeit des “Lernen können” so wertvoll: Sie erleichtert und verbessert den Lernprozess dauerhaft, macht Kinder unabhängiger von Unterrichtsformen und nachweislich erfolgreicher in Schule, Studium und Beruf. Wenn Kinder wissen, wie und mit welchen Techniken sie sich Lernstoff selbst aneignen, lernen sie viel leichter und auch schneller! Diese Fähigkeit ist also nichts Zusätzliches, sondern im Gegenteil: Sie spart sogar dauerhaft Zeit und Aufwand und ermöglicht, dass in Familien viel mehr Zeit für Freizeitaktivitäten bleibt.

Lernexperte Jürgen Möller mit Akademie-Maskottchen Karlchen (Foto: Henning Ross).

Als Corona-Maßnahmen griffen und alle zu Hause blieben, dachten wir: Nach dem Sommer wird alles wieder normal. Dann öffneten die Schulen und heute sind zahlreiche Schüler und Lehrer in Quarantäne. Also nichts ist normal, und es ist ungewiss, wann das wieder so sein wird. Wie ermutigen Sie Eltern, die sich in Ihrer Sprechstunde an Sie wenden? Was hilft Familien, durchzuhalten?

Zunächst: Es kann passieren, dass wir zumindest noch über einen längeren Zeitraum hinweg mit hybridem Unterricht leben müssen – einem Wechsel aus Homeschooling, Quarantäne und Präsenzunterricht, also Unterricht, der mal in der einen oder anderen Form stattfindet. Ohne in eine Glaskugel schauen zu können: Es kann sein, dass wir uns hier auf eine Langstrecke einrichten müssen. Das Wichtigste ist, dabei im Auge zu behalten, worum es geht nämlich um eine immens wichtige Zeit, die Kindheit. Die Kinder haben viel zu stemmen! Erleichtern wir ihnen das, indem wir ihnen die richtigen Fähigkeiten vermitteln und den Spaß zurückerobern, den Lernen bringt.

Was geben Sie Eltern mit, die befürchten, dass ihr Kind durch Corona zu wenig lernt und nun wissen möchten, was sie selbst tun können? 

Um Eltern zu entlasten, kann ich auch immer wieder nur ermutigen, sich bewusst zu machen: So schwierig diese Zeit war und ist in puncto Lernen – das, was die Kinder in diesen Zeiten „en passant“ nebst allem Schulstoff in der Homeschooling-Zeit lernen, ist viel wert. Das selbstständige Lernen, der Umgang mit digitalen Plattformen und auch die Zeit, die Eltern und Schüler gemeinsam beim Lernen verbracht haben – das ist auch positiv, gerade in Hinblick auf die Zukunft der Kinder! Viele Kinder haben z.B. in der Zeit entdeckt, wann sie am besten lernen. Dass sie Pausen machen müssen, um dann wieder mit Spaß an den Schreibtisch zu gehen. Das ist sehr viel wert. Wenn Eltern jetzt wissen wollen, was sie tun können, dann sage ich oft: Ihr müsst nicht noch mehr tun. Ihr tut schon so viel! Ihr seid Motivator, Lehrer, Nachhilfe, Homeschooling-Coach: Versucht den Kindern Wege zu vermitteln, wie sie das Lernen zunehmend alleine bewältigen und ihren Spaß wiederfinden. Durch Lerntechniken, gute Lerncoachings und -trainings oder ganz einfach kleine Veränderungen im Familienalltag. Gönnt euch auch mal die ein oder andere Mahlzeit bewusst ohne Gespräche übers Lernen. Lasst euch trotz Corona und Co. den Spaß am Lernen nicht nehmen. Denn erstens lernt man weniger erfolgreich. Und zweitens: Die Kindheit ist viel zu wichtig und schön, um sich den Spaß am Lernen, einer so immens wichtigen Fähigkeit, nehmen zu lassen.

Jürgen Möller, pädagogischer Leiter der Akademie für Lernpädagogik (Foto: Henning Ross).

Jürgen Möller ist Leiter der Akademie für Lernpädagogik, Lehrer und Bildungsaktivist. Die Corona-Krise hat auch seine Biografie verändert: War er bis Frühjahr 2020 noch erfolgreich mit zahlreichen Vorträgen live in Schulen unterwegs, vermittelt er sein Wissen und Tipps für Eltern und Kinder nun in Online-Seminaren und -trainings. Dabei steht er Eltern mit Rat, Know-how und Empfehlungen für den Alltag zur Seite.

Von Elgin Wiggers (Interviewerin)